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Familienbildnis



Familienbildnis


Inventar Nr.: AZ 4450
Bezeichnung: Familienbildnis
Künstler / Hersteller: Johann Friedrich August Tischbein (1750 - 1812), Maler/in
Datierung: um 1795/1800
Objektgruppe: Gemälde
Geogr. Bezug: Dessau
Material / Technik: Leinwand, doubliert
Maße: 130 x 120 cm (Bildmaß)
Provenienz:erworben 1975 vom Auktionshaus Neumeister, München; 1975 Auktionshaus Neumeister vorm. Weinmüller, München; 1921 Kunsthändler A. S. Drey, München
Leihgeber: Stadt Kassel, Städtische Kunstsammlungen


Katalogtext:
Vor einer Baumgruppe in einer idyllischen Landschaft mit bewachsenem Ufer und einer Hügelkette am Horizont, deren Vegetation auffällig präzise wiedergegeben ist, posiert ein Ehepaar mit einem Säugling. Das Kind liegt nackt im Schoß der Mutter und wird gestillt. Mit der pyramidalen Anordnung der Dreiergruppe folgte Tischbein dem tradierten Bildschema der Heiligen Familie. Auf diese Bildtradition weist auch die Nacktheit des Knaben hin. Seit Jahrhunderten war es üblich, Joseph von der Szene etwas abzusetzen. Durch den grasbewachsenen Felsblock ist der Vater auch hier von Frau und Kind räumlich getrennt. Während er den versonnen wirkenden Blick auf den Betrachter richtet, wendet sich seine Frau dem Säugling zu. Auch die Farbe der Kleidung grenzt den Vater von Mutter und Kind ab. Sein schwarzer Frack, unter dem der Kragen der roten Weste hervorschaut, bildet einen farblichen Kontrast zu dem hellen Kleid und den blassen Farbtönen der Inkarnate. Die Weißtöne von Mutter und Kind vereinen die beiden zu einer innigen Szene. Sie heben sich vom gedämpften Kolorit des Gemäldes insgesamt ab, das aus großen, klaren Farbflächen in Braungrau- und Blaugrüntönen aufgebaut ist und von einer ruhigen Licht- und Schattenführung bestimmt wird.
Bis in die 1970er Jahre galten die Dargestellten als »Unbekannte holländische Familie« (Stoll 1923, S. 202). Kaiser hat 1976 das Familienbildnis als »Selbstbildnis mit Frau Sophie (1762-1840) und Tochter Betty (1787-1855)« bezeichnet und das Gemälde anhand von Bettys Geburtsdatum auf das Jahr 1788 datiert. Diese Identifizierung und Datierung ist allerdings problematisch. Die Tabakpfeife ist zwar ein typisches Attribut bei Malern als Hinweis auf die Vergänglichkeit der Gemälde, doch passt dies nicht recht zum Charakter des Familienbildnisses (Helmut Börsch-Supan, Brief vom 27.6.2001). Vor allem aber denkt man im Vergleich mit den beiden signierten Familienselbstbildnissen Tischbeins aus den Jahren 1796 und 1800 (Leipzig, Museum der bildenden Künste, Inv. Nr. 1496 u. 944), bei der männlichen Figur nicht an ein Selbstporträt (Helmut Börsch-Supan, s. o.; Hermann Mildenberger, Brief vom 27.6.2001). Auf den Leipziger Selbstbildnissen wirkt Tischbeins Gesicht kräftiger als auf dem Kasseler Porträt, trotz gewisser physiognomischer Übereinstimmungen im Bereich der Nase und der Augen. Die Gesichtszüge Sophie Tischbeins hingegen, ebenso wie ihre Frisur und ihr Kleidungsstil, stimmen mit dem Kasseler Porträt überein.
Das Kleid der Frau, bei dem es sich um ein spezielles Stillkleid handelt, das vorne geöffnet wird, weist auf die 1790er Jahre. Die Schulterblenden entsprechen den Chemisenkleidern, wie sie sich seit der Mitte der 1790er Jahre durchsetzten. Zwei Kleider, deren Schnitt recht ähnlich ist, sind im »Journal des Luxus und der Moden« im Jahr 1796 abgebildet (vgl. Bd. 11, Tf. 12,2 u. 32). Auch von der formalen Gestaltung fügt sich das Gemälde besser in Tischbeins Werk der 1790er Jahre ein.
Eine unbezeichnete Federzeichnung Tischbeins, die in Kassel aufbewahrt wird und nicht in Frankes Werkverzeichnis enthalten ist, weist starke formale Analogien zu dem Gemälde auf (MHK, Graphische Sammlung, Inv. Nr. GS 5675). Dargestellt ist in einem Innenraum eine Familie mit zwei Töchtern und einem Säugling. Wie im Gemälde ist die Mutter sitzend wiedergegeben, hat die Brust entblößt und stillt ihr jüngstes Kind, das nackt in ihren Armen liegt. Hinter ihr steht der Ehemann, der wie im Gemälde eine lange Tonpfeife in den Händen hält. Auf der Zeichnung stimmt der Altersabstand zwischen den beiden Mädchen und dem Jungen durchaus mit dem von Caroline (1783-1842), Betty (1787-1867) und Karl Wilhelm (1797-1855) Tischbein überein, so dass es sich um ein Selbstporträt des Malers mit seiner Familie handeln könnte. Dass Tischbein im Gemälde nur seinen Sohn und nicht auch die beiden Töchter darstellte, ließe sich mit der Anspielung auf die Heilige Familie erklären. Bei Tischbeins Zeitgenossen Carl August Böttiger findet sich der Hinweis, dass der Maler 1795 ein Gedicht mit dem Titel die »Heilige Familie« verfasst habe, das »sein eigenes reizendes Familienporträt« sei (Böttiger 1998, S. 4029). Ob dies mit dem Gemälde in Zusammenhang steht?
Wenn es sich bei dem Kasseler Familienbildnis um ein Selbstbildnis des Künstlers mit Familie handelt, dann hätte Tischbein einen Porträttypus aufgegriffen, der im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts aufkam und nicht mehr die Insignien des Künstlerberufs hervorhob, sondern die Rolle des Malers als Familienvater. Erinnert sei an Familienbildnisse von Elisabeth Vigée-Lebrun, Daniel Chodowiecki und Anton Graff, in denen sie weniger ihren Beruf als die harmonischen Familienbande und die Elternrolle ins Zentrum gerückt haben.
Die offen gezeigte Intimität der Stillszene ist hingegen ungewöhnlich. Sie lässt sich nicht mit dem Rückgriff auf das Motiv der Heiligen Familie erklären, sondern ist Ausdruck zeitgenössischer Erziehungsideale. Vergleichbar sind das Bildnis einer unbekannten Familie von Johann Georg Edlinger (München, Neue Pinakothek, Inv. Nr. 10082), das in die Zeit zwischen 1795 und 1800 datiert wird, und ein Porträt von Johann Baptist Lampi aus dem Jahr 1786, das seine Ehefrau mit Sohn Francesco zeigt (Innsbruck, Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum, Inv. Gem. 3888). Das Motiv des Stillens taucht in Frankreich in Genrebildern nach 1750 häufiger auf. In Deutschland machte Chodowiecki Szenen mit stillenden Müttern populär, so in dem Titelkupfer zu Hippels Abhandlung »Über die Ehe« von 1792. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts setzte sich in bürgerlichen Familien allgemein die Auffassung durch, dass Mütter ihre Kinder selbst stillen sollten und nicht Ammen. Auf Frontispizen von Rousseaus Schriften sind oftmals stillende Mütter zu sehen, wie auch auf dem von Noel Lemire gestalteten Frontispiz zu der 1793 erschienenen Ausgabe von »Emile ou de l’Education« (Abb. in: AK Münster 1995, Kat. Nr. 74). Tischbein wird mit den Auffassungen der aufgeklärten Reformpädagogik besonders in Dessau in Berührung gekommen sein, wo er zwischen 1795 und 1800 als Hofmaler tätig war. Fürst Franz hatte den Pädagogen Johann Bernhard Basedow an seinen Hof geholt und mit dem Philanthropin eine Versuchs- und Musterschule zur praktischen Umsetzung der aufgeklärten Erziehungsideale gegründet. Tischbein dürfte das Familienbildnis zu dieser Zeit in Dessau gemalt haben, ob es ein Selbstbildnis des Malers mit dessen Frau und Sohn ist, muss offen bleiben.
(S. Heraeus, 2003)



Literatur:
  • Stoll, Adolf: Der Maler Friedrich August Tischbein und seine Familie. Stuttgart 1923, S. 202.
  • Hoffmann, Edith: Die Darstellung des Bürgers in der deutschen Malerei im 18. Jahrhundert. München 1934, S. 41.
  • Duncan, Carol: Happy Mothers and Other New Ideas in French Art. In: The Art Bulletin (1973), S. 570-583, S. 570-583.
  • Herzog, Erich: Ein Freundschaftsbildnis von Friedrich August Tischbein. In: Aus hessischen Museen 1 (1975), S. 123-130, S. 123.
  • Kaiser, Konrad: Ein Gang durch Kassels Neue Galerie, Teil 1. Kassel 1976, S. 14 (Teil 1).
  • Einem, Herbert von: Deutsche Malerei des Klassizismus und der Romantik. 1760 bis 1840. München 1978, S. 29.
  • Hardtwig, Barbara [Bearb.]: Bayerische Staatsgemäldesammlung. Nach-Barock und Klassizismus. München 1978, S. 79, Kat.Nr. 10082.
  • Lorenz, Angelika: Das deutsche Familienbild in der Malerei des 19. Jahrhunderts. Darmstadt 1985, S. 60, 65.
  • Kluxen, Andrea M.: Das Ende des Standesproträts. Die Bedeutung der englischen Malerei für das deutsche Porträt 1760-1848. München 1989, S. 141.
  • Reineking von Bock, Gisela: 200 Jahre Mode. Kleider vom Rokoko bis heute. Köln 1991, S. 20.
  • Franke, Martin: Johann Friedrich August Tischbein. Leben und Werk. Egelsbach u. a. 1993, S. 73 (Bd. 1), Kat.Nr. 461 (Bd. 2).
  • Erlemann, Hildegard: Die heilige Familie. München 1993, S. 43-50, 130.
  • Westhoff-Krummacher, Hildegard [Hrsg.]: "Als die Frauen noch sanft und engelsgleich waren". Die Sicht der Frauen in der Zeit der Aufklärung und des Biedermeier. Münster 1995, S. 188-191.
  • Katalog der Gemälde. Leipzig 1995, S. 193, Kat.Nr. 944, 1469.
  • Heraeus, Stefanie; Tipton, Susanne: Künstlerbildnisse. Porträts von Tischbein bis Beuys. Malerei, Graphik und Skulptur aus eigenen Beständen. Kassel 1996, S. 35-36, Kat.Nr. 10.
  • Lammel, Gisold: Kunst im Aufbruch. Malerei, Graphik und Plastik zur Zeit Goethes. Stuttgart/Weimar 1998, S. 67.
  • Böttiger, Karl August: Literarische Zustände und Zeitgenossen. Berlin 1998.
  • Heraeus, Stefanie [Bearb.]; Eissenhauer, Michael [Hrsg.]: Spätbarock und Klassizismus. Bestandskatalog der Gemälde in den Staatlichen Museen Kassel. Kassel [u.a.] 2003, S. 191-193, Kat.Nr. 168.
  • 3x Tischbein und die europäische Malerei um 1800. Kat. Staatliche Museen Kassel, Museum der bildenden Künste Leipzig. München 2005, S. 53, 180, Kat.Nr. 56.


Letzte Aktualisierung: 10.10.2022



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