Die Schauspielerin Mademoiselle Evrard



Die Schauspielerin Mademoiselle Evrard


Inventar Nr.: 1875/1624
Bezeichnung: Die Schauspielerin Mademoiselle Evrard
Künstler / Hersteller: Johann Heinrich d. Ä. Tischbein (1722 - 1789), Maler/in
Dargestellt: Evrard, Dargestellt
Datierung: um 1770/1780
Objektgruppe: Gemälde
Geogr. Bezug: Kassel
Material / Technik: Leinwand, doubliert
Maße: 150 x 113 cm (Bildmaß)
Provenienz:1938 von der Kasseler Kunstakademie überwiesen
Beschriftungen: verso (von fremder Hand): Mlle. Evérard. Première actrice de la tragédie et de la comédie


Katalogtext:
Als Melpomene, Anführerin der Musen und Muse der Tragödie, wendet sich die Schauspielerin Evrard mit der deklamatorischen Geste der linken Hand zum Betrachter. Sie trägt ein schweres Gewand aus gelbem Brokat, das mit Blumenmotiven, Perlen und Edelsteinen reich verziert ist, und einen Mantel aus blauem Samt, der an den Rändern golden eingefasst ist. Ihr hochgestecktes, grau gepudertes Haar ist mit einer weißen und einer schwarzen Feder, mit Perlen sowie Rubin- und Perlagraffen geschmückt. Die übrigen, aus der Emblematik überlieferten Attribute der Melpomene, wie sie Cesare Ripa in der »Iconologia« festgeschrieben hat, sind auf einem Postament zu ihrer Rechten angeordnet: die tragische Maske, die Krone und ein Lorbeerzweig, der Dolch, das Szepter und ein Buch sowie eine Textrolle.
Tischbein d. Ä., der sich wiederholt mit den neun Musen befasst hat, lehnte sich im Bildaufbau an die Darstellung der Melpomene seines Lehrers Charles André Vanloo (1685-1766) an, ähnlich wie in seinem Kabinettbild der Muse aus dem Jahr 1771 (1875/737). Hier wie dort posiert Melpomene vor einer vom linken Bildrand überschnittenen Säule mit bewegter Vorhangdraperie und einer Brüstung; im Hintergrund wird der Blick freigegeben auf ein architektonisches Versatzstück mit bewölktem Himmel. Bei den halbkreisförmigen Kolonnaden mit Pavillon handelt es sich um die der Kasseler Rennbahn, die Simon Louis du Ry (1726-1799) im Auftrag Landgraf Friedrichs II. ab Ende der 1760er Jahre wiederaufbaute. Nicht nur der Bildaufbau, auch das theatralische Pathos und die prächtige, ganz im Stil des Hochbarock gehaltene Inszenierung, die sich von Tischbeins schlichteren Porträts dieser Jahre deutlich unterscheidet, ist bei beiden Musendarstellungen vergleichbar.
In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, als das Theater ebenso beliebt wie die Oper wurde, gehörten Schauspielerinnen zu den prominenten gesellschaftlichen Figuren europäischer Residenzen und Metropolen. Da es das Regietheater noch nicht gab, galten ihre Leistungen als ihr eigenes Werk. Mademoiselle Evrard arbeitete am Französischen Theater in Kassel, das zur glanzvollen Repräsentation des aufgeklärten Hofes unter Landgraf Friedrich II. gehörte und in dem französische Tragödien, Dramen und Komödien aufgeführt wurden. Spielstätte des Französischen Theaters war das Ballhaus an der Reitbahn, das Simon Louis du Ry 1773 zu einem Komödienhaus umgebaut hatte. Im gedruckten, 1777 erschienenen Führer »Etat actuel de la musique et des spectacles de S. A. S. Monseigneur Le Landgrave regnant de Hesse« zum Kasseler Musik- und Theaterleben, herausgegeben vom Leiter des landgräflichen Theater- und Musikwesens Marquis de Luchet, ist Mademoiselle Evrard als erste Schauspielerin für die »Comédie française« aufgeführt (S. 20).
Mit der neuen Wertschätzung des Theaters entstanden zahlreiche Bildnisse von Schauspielern: als Druckgraphik in Theaterzeitschriften, aber auch als Gemälde, die fürstliche Auftraggeber von ihren Hofmalern anfertigen ließen. Anders als in Anton Graffs berühmtem Schauspielerrollenporträt der Esther Charlotte Brandes als »Ariadne auf Naxos« von 1775 (Köln, Schloss Wahn) ist Mademoiselle Evrard nicht in einer dramatischen Theaterszene oder in einer bestimmten erfolgreichen Rolle wiedergegeben. Tischbein hat sich nicht wie Graff an den englischen Schauspielerrollenporträts von Reynolds und Gainsborough orientiert, die im ausgehenden 18. Jahrhundert sehr gefragt waren, sondern führt die Evrard in der Tradition französischer Rollenbildnisse als ›Tragödie‹ mit individualisierten Gesichtszügen vor. Lediglich ihre Hände verweisen auf den Schauspielerberuf: Anstelle des Dolchs und der geballten Faust hat sie die Linke zur rhetorischen Geste geformt und hält in der Rechten eine Schriftrolle, auf der sich folgende Worte entziffern lassen: »Généiux, bienfaisant, juste, plen de vertus/Carle/Arouet dit Voltaire «. Tischbein wählte wohl die Tragödie, da sie in der Gattungshierarchie der Schauspielkunst an erster Stelle stand.
Eine erste schriftliche Erwähnung des großformatigen Kniestücks findet sich 1792 in dem von Tischbeins Schwiegersohn verfassten Reiseführer »Cassel und die umliegende Gegend«. David von Apell spricht darin von »drei Porträts von Schauspielerinnen des ehemaligen hiesigen französischen Theaters, von Tischbein in dem Charakter der Tragödie, des Ballets und der Oper« (Apell 1792, S. 107f.). In der 1805 anonym erschienenen, vermutlich ebenfalls von Apell stammenden Beschreibung von »Cassel in historisch-topographischer Hinsicht« wird als Standort der drei Rollenporträts der Treppenaufgang im Weißensteinflügel von Schloss Wilhelmshöhe angegeben. Man darf vermuten, dass Landgraf Friedrichs II. seinen Hofmaler mit den Porträts beauftragte, um dem Theater- und Kulturleben unter seiner Regentschaft bildlichen Ausdruck zu verleihen. Tischbein dürfte die Gemälde zwischen 1770 und 1780 gemalt haben, als er am Musenzyklus im Kabinettformat arbeitete (1875/729, 1875/732-739).
(S. Heraeus, 2003)



Literatur:
  • Apell, David von: Cassel und die umliegende Gegend. Eine Skizze für Reisende. Kassel 1792, S. 107.
  • Engelschall, Josef Friedrich: Johann Heinrich Tischbein d. Ä., ehemaliger Fürstlich-Hessischer Rath und Hofmaler, als Mensch und Künstler dargestellt, nebst einer Vorlesung von Casparson. Nürnberg 1797, S. 126, Kat.Nr. 70.
  • Thieme, U. [Hrsg.]; Becker, F. [Hrsg.]; Vollmer, H. [Hrsg.]: Allgemeines Lexikon der Bildenden Künstler von der Antike bis zur Gegenwart. Leipzig 1907-1950, S. 210 (Bd. 33, 1939).
  • Bahlmann, Hermann: Johann Heinrich Tischbein. Straßburg 1911, S. 73, Kat.Nr. 12 (?).
  • Europäische Theaterausstellung. Wien 1955, S. 142, Kat.Nr. 22.
  • Herzog, Erich [Bearb.]: Johann Heinrich Tischbein d. Ä. 1722-1789. Kassel 1964, S. 12, Kat.Nr. 38.
  • Kaiser, Konrad: Ein Gang durch Kassels Neue Galerie, Teil 1. Kassel 1976, S. 13.
  • Kunsträume. Die Länder zu Gast bei der Nationalgalerie Berlin. Berlin 1987, S. 65, Kat.Nr. 5.
  • Marianne Heinz [Bearb.]; Erich Herzog [Bearb.+ Hrsg.]: Johann Heinrich Tischbein d. Ä. (1722 - 1789), Kassel trifft sich - Kassel erinnert sich in der Stadtsparkasse Kassel. Kassel 1989, S. 165, Kat.Nr. 29.
  • Kluxen, Andrea M.: Das Ende des Standesproträts. Die Bedeutung der englischen Malerei für das deutsche Porträt 1760-1848. München 1989, S. 142-150.
  • Emde, Ruth B.: Schauspielerinnen im Europa des 18. Jahrhunderts - ihr Leben, ihre Schriften und ihr Publikum. Marburg 1996.
  • Flohr, Anna-Charlotte: Johann Heinrich Tischbein d.Ä. (1722-1789) als Porträtmaler mit einem kritischen Werkverzeichnis. München 1997, S. 99, 230, Kat.Nr. G 141.
  • Heraeus, Stefanie [Bearb.]; Eissenhauer, Michael [Hrsg.]: Spätbarock und Klassizismus. Bestandskatalog der Gemälde in den Staatlichen Museen Kassel. Kassel [u.a.] 2003, S. 292-294, Kat.Nr. 250.
  • Rehm, Stefanie: Verknocht aan Holland. De Hessische Kunstenaarsfamilie Tischbein en Haar Fascinatie voor Nederland.


Letzte Aktualisierung: 29.10.2020



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